Straßenbauwahn oder Notwendigkeit?

Die Themen Klimaschutz und Straßenbau haben das Potential zu einer echten Belastungsprobe für die türkis-grüne Koalition zu werden. Hinter jedem Projekt stehen auch Bauern, die ihre Flächen unter Beton verlieren. STEFAN NIMMERVOLL hat sich das Beispiel S34 angeschaut.

Die Anspannung steht Andrea und Stephan Götzinger ins Gesicht geschrieben. Immerhin geht es um nicht weniger als die Zukunft ihres landwirtschaftlichen Betriebes. Durch und an ihren Obstgärten im Gemeindegebiet der Stadt St. Pölten vorbei soll in Zukunft die Traisental-Schnellstraße S34 führen. Noch ist der Schlussakkord in der Angelegenheit aber nicht gespielt; und es ist unklar, ob er in Dur oder Moll erklingen wird. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht am 6. April die Beschwerden der Straßengegner abgewiesen und den Weg für die Umsetzung des Projektes durch die ASFINAG grundsätzlich freigemacht. Wenige Wochen später weckte Klimaschutzministerin Leonore Gewessler aber mit der Ankündigung, alle Neubauprojekte von Autobahnen und Schnellstraßen evaluieren zu lassen, neue Hoffnung. Die Nervenprobe für die Familie Götzinger und 40 weitere betroffene Bauern geht also weiter.

Die grundsätzliche Idee einer Schnellstraße, die den Süden der Landeshauptstadt und die durch einige Dörfer führende B20 entlasten soll, ist mittlerweile 40 Jahre alt. „Seit 2008 wissen wir, dass die Trasse bei uns durchgehen soll und seit damals kämpfen wir dagegen“, sagt Stephan Götzinger. Geheißen habe es damals, dass in zwei Jahren die Bauarbeiten beginnen werden. Bagger sind seither aber keine gerollt. Erst heuer kam wieder Bewegung in die Angelegenheit und damit auch in den Widerstand dagegen. Für Götzinger wäre die S34 eine betriebliche Katastrophe: „Die Straße würde unsere Anlagen durchschneiden und die Zubringer diese umschließen. Dort können wir kein hochwertiges Bio-Obst mehr produzieren.“

Inklusive der Ausgleichsflächen für verlorene Naturräume müssten für neun Kilometer Fahrbahn 150 Hektar an landwirtschaftlichen Nutzflächen aus der Produktion genommen werden. Als Anbindung zur A1 soll ein „Kleeblatt“ errichtet werden, das so groß ist wie die gesamte St. Pöltner Innenstadt. Zusätzlich soll der im Besitz von Red Bull-Gründer Dietrich Mateschitz stehende Flugplatz Völtendorf um acht Mio. Euro untertunnelt werden. „Dafür wird das Grundwasser mit einer acht Meter tiefen Schneise abgesenkt, was zusätzliche Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben wird“, beklagt Stephan Götzinger. Deshalb ist die Familie in der Bürgerinitiative „Stopp S34“ aktiv, die das Vorhaben noch verhindern will und Unterschriften dagegen sammelt. Parallel dazu sammeln auch die Umfahrungsbefürworter in einer Art „Krieg der Petitionen“ Unterstützungserklärungen.

Mit der Evaluierung durch das grüne Klimaschutzministerium ist der Straßenbau jedenfalls endgültig ein (Partei)-Politikum geworden: Die ÖVP zeigte sich angesichts der Ankündigung von Leonore Gewessler koalitionsintern mehr als verschnupft. Im Stadtparlament von St. Pölten sind nur die Grünen und die NEOS klar gegen die S34. Das Projekt gilt als persönliches Anliegen von SPÖ-Bürgermeister Matthias Stadler, für den kein Weg an der Errichtung vorbeiführt. Die städtische Volkspartei tut sich mit einer Positionierung sichtlich schwer. Niederösterreichs Mobilitätslandesrat Ludwig Schleritzko, immerhin selbst bäuerlicher Herkunft, ist ein Befürworter der Schnellstraße: „Sie liefert eine Entlastung vom Durchzugsverkehr und damit mehr Lebensqualität für die Bevölkerung. Sie bringt aber auch wirtschaftliche Chancen, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern, mit sich.“ Hochrangige Straßen würden einer strengen Prüfung unterliegen, ob sie strategisch notwendig und auch umweltverträglich sind. Diesen rechtsstaatlichen Mechanismen müsse man vertrauen.

Bedenken zum Projekt kommen vom Vorstandsvorsitzenden der Österreichischen Hagelversicherung, Kurt Weinberger, der selbst wohl nicht gerade als ÖVP-fern einzustufen ist: „Österreich hat mit 15 Metern Straßenlänge pro Kopf bereits das dichteste Netz in Europa.“ Es sei ein Zeichen der Vernunft, dass Projekte mit einem so großen Einschnitt in die Natur evaluiert werden. „Die Abkehr vom Straßenbauwahn hin zu einer nachhaltigeren Mobilitätsform ist ein Hoffnungsschimmer für Mensch, Tier und Natur.“ Dieser sei nur eine Symptom- und keine Ursachenbekämpfung. Stattdessen müssen man den Ausbau der Schiene, die Bildung von Fahrgemeinschaften und die Arbeit im Homeoffice forcieren und abstellen, dass beispielsweise Erdäpfel zum Schälen von Holland nach Marokko und anschließend wieder retour transportiert werden. „Sonst werden Staus trotz Straßenbau und der damit verbundenen Naturzerstörung fortschreiten. Und in ein paar Jahren brauchen wir dann mit Garantie eine neue Umfahrung von der Umfahrung“, so Weinberger.

Die versprochene Entlastung durch die S34 bezweifelt auch Stephan Götzinger: „Neue Straßen ziehen neuen Verkehr an. Studien besagen, dass das derzeitige Verkehrsaufkommen auf der B20 gleich bleiben, aber auf der Schnellstraße nochmals dieselbe Menge an Fahrzeugen dazukommen wird.“ Zudem würde die S34 an einem Kreisverkehr in Wilhelmsburg enden. Dort werde man dann im LKW-Verkehr untergehen, glaubt Götzinger. Generell stelle er sich auch die Frage, welchen übergeordneten Zweck das kurze Autobahnstück habe und mutmaßt eine Weiterführung über Lilienfeld in die Steiermark oder die Schaffung eines Autobahnringes rund um St. Pölten. Laut Ludwig Schleritzko spielt eine Durchbindung ins Nachbarbundesland in den Plänen jedoch keine Rolle. Er stimmt mit den Projektgegnern überein, dass es gleichzeitig zu einem Ausbau der Angebote im öffentlichen Verkehr kommen muss: „100 Mio. Euro sollen gemeinsam mit der ÖBB in die Traisentalbahn investiert werden. Beim Öffi-Ausbau ginge aber mehr, hier ist das Klimaschutzministerium gefordert.“

Schleritzko unterstreicht gegenüber BLICK INS LAND auch ausdrücklich, dass er die Emotionen der betroffenen Bauern verstehe: „Es ist daher wichtig, dass es nicht nur um einen monetären Ausgleich gehen kann. ASFINAG und Landeshauptstadt haben gemeinsam auch die Verantwortung, den Landwirten ein faires Angebot für Ersatzflächen zu machen.“ Stephan Götzinger hat noch keine konkrete Summe genannt bekommen, die er für seine Wirtschaftsgrundlage bekommen könnte. Er berichtet hingegen von einer Unterredung, bei der es patzig geheißen habe „die ASFINAG ist kein Immobilienmakler.“ Zudem könne er sich nicht vorstellen, wie es am ohnehin heiß umkämpften Bodenmarkt im Zentralraum möglich sein solle, gleichwertige Felder in einem derartigen Ausmaß zu bekommen. „Ich betreibe Bio-Obstbau. Ich kann nicht jedes Mal mit der Spritze zwei Stunden in meine Anlagen fahren.“ Deshalb werde er den Kampf gegen die S34 bis zur letzten Konsequenz weiterführen.

s34.at

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