Die Natur optimiert, der Mensch maximiert
Quergedacht: Sollen sich Pensionisten doch endlich zur Ruhe setzen! Alfred Haiger, Ex-Tierzucht-Professor auf der BOKU, bleibt in seinem Fach aktiv und forderte in einem Vortrag seine Zuhörer zur Widerrede auf. Gut, dass es streitbare Geister wie ihn gibt! ALOIS BURGSTALLER hat zugehört.
Der Saal, der an die 200 Besucher fassen könnte, ist zu einem viertel gefüllt. Die Besucher stehen in kleinen Grüppchen. Es ist Schlag Vier. Eigentlich zu früh für eine Abendveranstaltung und zu spät als Nachmittagsevent. Der Referent tritt hinter das Pult. Obwohl es in diesen Kreisen Gewohnheit ist, die akademische Viertelstunde zuzuwarten, ergreift der Redner bestimmt das Wort und beginnt damit, was er für sein Leben gern macht: Er hält einen Vortrag. Seinen Vortrag. Anspannung ist ihm anzumerken. Wahrscheinlich ist er verstimmt, dass anders als früher, wo Hunderte seine Vorträge verfolgt haben, nur noch eine überschaubare Zahl überwiegend älterer Zuhörer gekommen ist. Er beginnt: „Es gibt Entwicklungen in der Tierzucht, die ich nicht verstehe. Ich verstehe nicht, warum eine Kuh, die 12.000 Liter Milch gibt und dafür 3.000 kg Lebensmittel gefressen hat, warum die prämiert wird?“ Somit ist klar: Das wird keine Veranstaltung der akademischen Schmeicheleinheiten. So kennt man ihn auch seit jeher, Alfred Haiger, Professor für Tierzucht im Unruhestand.
Milchviehzüchter, von denen es allein in Österreich 22.000 gibt, würden die Stirn runzeln, wenn Haigers Prämierungsvorstellungen umgesetzt würden. Er will Kühe prämiert sehen, die aus einer Handvoll Getreide und sonst nur Gras, 6.000 bis 7.000 Liter Milch erzeugen. Haigers Argumente bauen auf Jahrmillionen der gemeinsamen Entwicklung von Rind und Grünland auf. Ewiggestrig ist das nicht, nur lästig. Weil aber seit 50 bis 60 Jahren Gras als Energielieferant für die Kuh zu teuer geworden ist, steigt seither der Druck auf die Bauern, immer mehr Kraftfutter in der Kuhration unterzubringen. Haiger zitiert den Fütterungsexperten van Soest aus den 60er Jahren: „Die Machbarkeit der ausschließlichen Verfütterung von Kraftfutter wurde bisher bezweifelt. Die Tatsache, dass die Kosten für die Nettoenergie im Silomais niedriger sind als im Grasland, hat die Forschung der Wiederkäuerernährung dazu gedrängt, Lösungen für die Verdauungsstörungen zu suchen.“
Darin waren die Forscher sehr erfolgreich. Es ist unvorstellbar, dass es einmal eine Zeit gegeben haben soll, zu der die Eignung von Kraftfutter als Milchviehfutter angezweifelt wurde. Die von der Agrarpolitik begünstigte Verbilligung des Kraftfutters und sein weitreichender Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit der Milchviehstrategie sind der Ausgangspunkt der Meinungsverschiedenheit zwischen Haiger und den Tierzüchtern. Zumindest derjenigen, die aktuell die Richtung in der Zucht bestimmen.
Haiger kritisiert die Benachteiligung des Grünlands und ihre Folgen für das Ausscheren der Rinderzucht aus dem ökologischen Erbe des Rindes. Er ist überzeugt, „dass nur langfristig ökonomisch sein kann, was den Gesetzen des Lebens, der Ökologie entspricht und nicht ihnen zuwiderläuft“. Der Ökologie des Rindes widerspricht es, einerseits leistungsmaximierend zu füttern und auf Frühreife zu züchten. Ersteres wird von den Ergebnissen der Milchvieharbeitskreise untermauert, zweites aus den Zwängen, Investitionen wieder schnell zu Geld machen zu wollen. „Die Natur hat immer schon optimiert, der Mensch hingegen liebt das Maximieren“, sagt Haiger. Die Rentabilität der Kuh hängt am stärksten von der maximalen Milchleistung je Laktation ab und zu einem untergeordneten Teil von der Nutzungsdauer der Kuh. Dieses wirtschaftliche Faktum geht zu Lasten der Langlebigkeit. Viel Milch in wenigen Jahren zu erzeugen, ist attraktiver als viel Milch und viele Kälber zu liefern. Dadurch steigt der Anreiz, hohe Laktationsleistungen mit hoher Energiedichte zu erfüttern, also kraftfutterlastig zu füttern. Jene Kühe, die Kraftfutter besser vertragen, haben einen Vorteil und werden mehr zur Zucht eingesetzt. So wird systematisch Gras aus der Ration verdrängt und die Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen aufgebaut.
Haiger warnt, dass dieser Weg zwar kurzfristig ökonomisch sein mag, dafür aber kurzsichtig ist. „10 Milliarden Menschen werde man mit Kühen, die 2.000 bis 3.000 kg Getreide fressen können, nicht mehr ernähren können. Auch die Ackerflächen werden immer weniger.“ Wer langfristig und vorsorgend denke, könne Milchkühe, die von Kraftfutter abhängig sind, nicht gutheißen. Vielmehr werde der im Vorteil sein, dessen Kühe uns nichts vom Teller fressen, sondern von der Wiese. Längst habe man die biologischen Grenzen in der Zucht hinter sich gelassen. Die geringe Nutzungsdauer der Kühe, die bei 3,8 Jahren liegt, beweise das. Während die Leistungen wie auf einer Geraden angestiegen sind, tritt die Nutzungsdauer auf einem lächerlichen Niveau auf der Stelle. Wenn aber die Kühe nicht mehr alt werden, ist das eine Folge der Zucht auf Frühreife. Würde man ihn fragen, wenn eine Kuh 48.000 kg Milch gegeben habe, ob er jene mit 8.000 Liter/Jahr und sechs Kälbern jener mit 6.000 Liter und acht Kälbern für züchterisch wertvoller hielte, dann würde er die mit mehr Kälbern für züchterisch wertvoller halten. Habe man doch zwei Kälber mehr von der älteren Kuh und sehr wahrscheinlich habe sie die Milch hauptsächlich aus Gras erzeugt. Womit der Referent wieder zum Kern seiner Überzeugungsarbeit gekommen ist. Kühe zu züchten, heißt lange vorauszudenken und jetzt die für die Zukunft richtigen Entscheidungen zu treffen. Man spürt, dass er seine Überzeugungen ohne ökonomischen Druck vortragen kann, dass er nicht einmal auf sich selbst Rücksicht nehmen muss. Seine Freiheit will er zum Nutzen der zukünftigen Generationen einsetzen.
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